Das Verbrechen an Tugce A. – Der Fall Sanel M.

Es ist eine Geschichte, wie der einfallsreichste Drehbuchautor sie sich nicht ausdenken könnte. Die Protagonistin: Eine junge Frau mit Migrationshintergrund. So gut integriert wie jede erdenkliche Studie der Innenministerkonferenz es nur verlangen kann. Emanzipiert. Lehramtsstudentin. Eine junge Frau, die gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung erreichen will.

Eines Tages kommt diese junge Frau mit einigen Freundinnen in ein McDonalds-Lokal und beobachtet, wie zwei junge Mädchen von einigen Heranwachsenden belästigt werden. Die junge Frau beweist grenzenlose Zivilcourage, stellt sich den jungen Männern entgegen. Sie steht ein für eine tolerante Gesellschaft, für eine Gesellschaft, die Belästigung und Übergriffe nicht akzeptieren will. Sie hat Erfolg. Die Männer werden des Lokals verwiesen. In einem Hollywood-Spielfilm wäre das das Happy End.

Doch leider erwartete Sanel M. die junge Frau am Ausgang der McDonalds-Filiale und schlug nieder, was sie letztendlich tötete.

Der (noch-)Nicht-Täter Sanel M.

Niemand in Deutschland darf irgendjemanden in der Öffentlichkeit als Täter bezichtigen, bevor er nicht rechtskräftig verurteilt worden ist. Diese juristisch grundsätzlich sinnvolle Errungenschaft nimmt nun bisweilen bizarre Züge an: Zum Beispiel, wenn das Geschehen eines Verbrechens auf Video festgehalten ist, und der Tathergang sehr wenige Spekulationsmöglichkeiten über Vorgang und Motiv zulässt.

Die genauen Zeugenaussagen mit dem Tape der Überwachungskamera im Detail abzugleichen wird Gegenstand eines langwierigen Verfahrens werden. Bereits nach den vorliegenden Informationen ist aber folgendes unbestritten: Sanel M. erwartete Tugce A. (wie lange genau ist noch zu klären) am Ausgang des McDonalds-Restaurant, schlug ihr ins Gesicht worauf sie zu Boden stürzte und mit dem Kopf Aufschlug. Das tötete sie.

Unbestritten ist also, dass Sanel M. mit seinem brutalen Akt die Ereigniskette auslöste, die Tugce tötete. Unbestritten scheint auch, dass er ihr auflauerte und der Tat ein längerfristiger Entschluss vorher ging. Und auch ein Tatmotiv springt dem Beobachter des Ereignisses sofort ins Gehirn: „Hier hat der gekränkte Stolz eines jungen Mannes ihn dazu getrieben, die junge Frau zu bestrafen, die ihm und seinem Machogehabe völlig rechtmäßig entgegengetreten ist.“ Es fällt mindestens schwer, aus den Ereignissen ein anderes Motiv zu schlussfolgern. Die Tötungsabsicht wird sich im Prozess kaum mehr nachweisen lassen.

So gut wie fest steht jedoch jetzt bereits, dass Sanel M. nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt werden wird, und dass der Prozess (obwohl er das 18. Lebensjahr überschritten hat, und vorbestraft ist) vor einem Jugendgericht stattfinden wird. Sanel M. drohen damit drei bis fünf Jahre Haft. Bei Weitem nicht genug, sagen viele.

Sanel M.: Recht und Gerechtigkeit

Ein jedes Mitglied der deutschen Gesellschaft, ob juristisch vorgebildet oder nicht, kommt bei einem derartig medial präsenten Fall nicht umhin ein bestimmtes Gerechtigkeitsempfinden zu haben. Dieses Empfinden stimmt natürlich nicht 1:1 mit kodifiziertem deutschen Recht überein, und noch viel weniger mit der gängigen Rechtsprechungspraxis auf Basis dieses Rechts.

In der Tat ist es ein langfristiger Trend der letzten Jahre: Die Urteile, die in Strafprozessen gefällt werden, genügen immer weniger den ethisch-moralischen Ansprüchen der Bevölkerungsmehrheit. Die Wahrnehmung und Erwartung der Gesellschaft sind vielmehr ;härtere Strafen . [Im Fachjargon: Eine höhere „Punitivität“ ist feststellbar]

Insbesondere die Anwendung des Jugendstrafrechts unter bestimmten Bedingungen ist auf Grund von spektakulären Fällen in jüngster Zeit kontrovers diskutiert worden. Die Täter im Fall des Münchner U-Bahn-Helden Dominik Brunner wurden nur nach Jugendstrafen belangt. Im März diesen Jahres wurde ein zum Tatzeitpunkt 19-Jähriger für einen Mord nach Vergewaltigung an einer 9 jährigen Grundschülerin lediglich zu einer Jugendstrafe von 8 Jahren verurteilt.

Es sind solch spektakuläre Fälle, an denen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem Justizsystem sich öffentlich ihre Bahn bricht.

Moralvorstellungen sind keine Gesetze

Richter photo

Die Interpretation juristischer Sachverhalte ist ein schwieriges FeldPhoto by Skley

Richter und Juristen haben es bei der Beurteilung eines gesetzlichen Sachverhalts grundlegend schwerer als ein normaler Bürger. Jeder Bürger hat zwar ein ethisch-moralisches Empfinden zu bestimmten Sachfragen, und fällt darauf basierend auch moralische Urteile, doch sind solche ethisch moralischen Einschätzungen eben keine Gesetze.

Ein Bürger kann seine Meinung über einen bestimmten ethisch/moralischen Sachverhalt ändern. Zwei Meinungen zu verschiedenen Sachverhalten müssen nicht miteinander übereinstimmen oder kongruent aus gemeinsamen Prinzipien abzuleiten sein. Darüber hinaus bleibt ein ethisch-moralisches Urteil eines Bürgers als solches zunächst einmal ohne direkte Folgen.

Ganz anders sieht es mit einem Gesetz oder einem juristischen Urteil aus. Die Gesetze eines Staates müssen beständig, in sich logisch und aufeinander abgewogen sein. Jeder Bürger muss sich darauf verlassen können, dass er bei ähnlichen Sachverhalten auch ähnliche Urteile zu erwarten hat. Die Gesetze und Urteile eines Staates müssen für die Bevölkerung verlässlich und voraussehbar sein. Gerade darin besteht das Dilemma der Juristen: Sie müssen bei Urteilen eben nicht nur das gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden sondern auch die Eigenlogik des Rechts- und Justizsystems berücksichtigen.

Gesellschaftliche Moral als Leitlinie

Dennoch kann die Justiz nie gänzlich unabhängig vom gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfinden bleiben. Denn wir begründen die Gültigkeit unserer Gesetze auf folgende Weise: Weil die Gesamtheit der Bürger in einem demokratischen Prozess an der Gesetzgebung beteiligt ist, sind die Gesetze auch für die Gesamtheit der Bürger gültig. Dies impliziert jedoch, dass jeder einzelne Bürger sein persönliches Moralempfinden mindestens in die grundlegende Richtlinie der Gesetze einbringen können muss.

Obgleich die Detailabwägung natürlich in den Händen von professionell und im Detail geschulten Juristen liegen muss, kann und darf juristische Rechtsprechung sich nicht völlig vom gesellschaftlichen Diskurs entkoppeln. Andernfalls wird die Gesellschaft das Grundvertrauen in die Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit ihrer Gesetze verlieren.

Der Fall Sanel M.

Kehren wir wieder zu unserem Ausgangsfall zurück. Der Gerichtsprozess über den Mann, der mutmaßlich für den Tod von Tugce A. verantwortlich ist, wird zweifelsohne eine kontroverse Medienberichterstattung nach sich ziehen. Justizminister Heiko Maas verkündete bereits vorsorglich, dass er auf Grund des Falls keine Notwendigkeit zur Verschärfung des Jugendstrafrechts sehe.

Wer eine Beurteilung eines Falls vornehmen will, sei sie professionell juristisch oder „nur“ auf Basis des eigenen moralischen Empfindens, sollte die Details genau betrachten. Was präsentiert sich uns hier: Was wir sehen ist ein junger Mann, der ungeachtet seiner Vorstrafe mit erzieherischer Zielsetzung basale Regeln unserer Gesellschaft nicht verstanden zu haben scheint. Es ist ein junger Mann, der auf der McDonalds-Toilette junge Mädchen belästigt. Es ist ein junger Mann, der scheinbar nicht ertragen konnte, dass eine junge Frau ihm in seinem Treiben Einhalt geboten hat. Es ist ein junger Mann, der dieser Frau dann auflauerte, um sich an ihr zu rächen, und dessen Handlungen sie letztlich zu Tode brachten.

Foto eines Gefängniszauns

Welche Haftstrafe für ein bestimmtes Verbrechen angemessen ist, muss Gegenstand einer Betrachtung im Einzelfall sein. Bei der Findung dieses Strafmaßes muss jedoch auch das gesellschaftliche Moralempfinden berücksichtigt werden.

Was sagt es über uns aus, wenn wir einem bereits vorbestraften jungen Mann gestatten, die Normen, Regeln und Gesetze unserer Gesellschaft mit Füßen zu treten? Was für ein Signal senden wir, wenn wir einem jungen Mann gestatten eine heldenhafte Frau für ihre gelungene Integration, ihren Mut und ihre Zivilcourage zu bestrafen? Gehört ein Mann, der so etwas getan hat, für 3 bis 5 Jahre ins Gefängnis? Oder nicht doch für 15 oder 20 Jahre?

Am Ende des Prozesses wird ein juristisch korrekt ermitteltes Urteil stehen. Doch was in diesem konkreten Fall Gerechtigkeit bedeutet, muss jeder einzelne Beobachter mit seinem Gewissen ausmachen.

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