Die 90er und frühen 2000er: Kulturjahrzehnte ohne Einfluss?

David Bowie photo

Künstler wie David Bowie haben ihre Musik und Kultur in der aktuellen Generation beibehalten. Photo by markjeremy

Es ist mir schon vor längerer Zeit aufgefallen: Die Art und Weise wie man sich an kulturelle Epochen zurück erinnert, ist sehr unterschiedlich. Fast jeder, der in den 70ern oder 80ern seine Jugend verbracht hat, schwärmt für diese Zeit, weiß neben tausenden von Anekdoten unendlich viel darüber zu erzählen, warum dieses Jahrzehnt großartig war: Die Musik, die Kleidung, das Lebensgefühl, die Kultur. Wer hingegen das Pech hatte in den 90ern oder 2000ern jung gewesen zu sein, dem ist seine Jugend häufig eher peinlich. Plastikpop, Bauchfreie Tops und Nachmittags-Talkshows verursachen im Nachhinein eher Fremdschämen, als dass sie zur Romantisierung der eigenen Jugend-Epoche dienen würden. Woran aber liegt das? Die Menschen in den 90ern haben in ihrer Jugend doch nicht weniger erlebt, als die vorherigen Generationen.

Retrokultur und Beständigkeit

80er Jahre Party

Bei Retroveranstaltungen und 80er-Jahre-Partys lebt die Kultur des vergangenen Jahrzehnts fort. Photo by sunshinecity

Schaut man sich die Kultur der älteren Jahrzehnte an, stellt man fest, wie ausgesprochen hartnäckig sie ist. In zahllosen 70er und 80er Jahre-Partys werden die Hits der Vergangenheit gespielt. Diese Partys werden frequentiert, und zwar nicht nur von älteren Semestern sondern auch von Jugendlichen. Es gibt Retrogruppen, die die sich Kleidung, Kultur und Lebensgefühl vergangener Jahrzehnte zu eigen machen. Die meisten Musiker aus den 70ern und 80ern sind immer noch aktiv. Und egal ob Bruce Springsteen, David Bowie, Led Zeppelin, AC/DC, Deep Purple oder Iron Maiden: Diese Bands und Musiker machen (trotz gewisser künstlerisch-musikalischer Weiterentwicklung) immer noch die gleiche Musik wie vor 30-40 Jahren. Die Kultur der früheren Jahrzehnte ist heute noch lebendig. Was aber ist mit den neueren Kulturen?

Die Digitalisierung der Musik

Es hat auch in den 90ern und 2000ern Top-Stars in der popkulturellen Öffentlichkeit gegeben: Take That, Backstreet Boys, Britney Spears, Christina Aguilera, Beyonce Knowles, Enrique Eglesias, Eminem oder Linkin Park. Was immer man von den unterschiedlichen Musikgenres, von Plastikpopgedudel, R&B, HipHop oder dem damals neuen „NewRock“ gehalten hat, höchstwahrscheinlich hat man sich damals mit irgendeiner dieser Musiken identifiziert. Auch diese Künstler sind heute noch aktiv. Doch was sie heute machen, hat mit der Musik von damals nur noch wenig gemein.

Was wir heute hören ist elektronisierte Musik voller digitaler Effekte und Störgeräusche. Linkin Park zum Beispiel haben von ihrem einstigen Hitsong „In the End“ (2003) einen Dubstep-Remix veröffentlich. (2013)

Und auch wenn man NSyncs früheren Hit „I Want You Back“ (1996) mit Justin Timberlakes späterem Hit „Sexy Back“ (2006) vergleicht, bemerkt man wie sehr sich die Stimmen verzerrt, die Effekte verstärkt und die Beats verselbstständigt haben.

Man vergleiche Eminems „lose Yourself“ (1999) mit dem heutigen Song „Guts Over Fear feat. Sia“ (2014)

Oder man vergleiche Beyonce Knowles „Irreplaceable“ (2006) mit ihrem neuen Song „Run the World (Girls)“

Überall hören wir lang gezogene und verzerrte Stimmen, Autotune-Gesänge und Beats mit Störgeräuschen. Die Stimmen in der Musik geraten in den Hintergrund. Was wir hören ist eben der Sound der 2010er, geprägt von Dubstep und Digitalisierung aller Musikbereiche.

Kein Aufbäumen

Es steht hier nicht zur Debatte, ob man den genannten Musikbeispielen etwas abgewinnen kann. Die Frage, die hier interessiert ist: Wie kann es sein, dass Künstler, die früher für einen bestimmten Musikstil standen, diesen Stil offenbar ohne große Probleme ablegen? Wie kann es sein, dass sie ihre Musik übergangslos und ohne erkennbaren Widerstand dem neuen Zeitgeist anpassen? Wie kann es passieren, dass im Stile-Misch-Masch der heutigen Musikindustrie keine Identität, keine Handschrift der einzelnen Künstler hinter dem aktuellsten Trend mehr zu erkennen ist?

Fließende Grenzen und kapitalistische Strukturen

miley crus beim Liveauftritt

Die Idee für Musik entsteht heute öfter in den Management-Büros als im Herzen eines Künstlers. Lebendes Beispiel: Skandalnudel Miley Cyrus Photo by Eva Rinaldi Celebrity and Live Music Photographer

Die obige Darstellung ist natürlich vereinfacht. Spätestens seit den 2000ern wurde es gesellschaftlich viel akzeptabler sehr unterschiedliche Musikstile nebeneinander zu hören und zu betreiben und mit Stilmixen zu experimentieren. Dass die Musiker dadurch offener für radikale Veränderungen in ihrer eigenen Musik werden würden, war fast absehbar. Sowohl der Plastik-Pop der 90er Jahre als auch auch der Nu-Rock der frühen 2000er standen der elektronischen Musik überdies viel näher als die Musik der 70er und 80er. Dass sich die Musik weiter in Richtung Elektronik entwickeln würde, war schon damals in weiter ferne abzusehen.

Schließlich ist die Musikindustrie heute nicht mehr von kernigen Künstlerpersönlichkeiten geprägt, sondern von Musikpsychologen und Manager-Produzenten. Die Musik ist mehr und mehr kein Kunstwerk mehr, sondern ein Produkt, dass den jeweiligen Bedürfnissen des Markts angepasst wird. Im Endeffekt dürfen wir die Hörer uns darüber auch nur bedingt beklagen. Denn dem Publikum wird die Musik geliefert, die es hören möchte. Aber jetzt mal im Ernst: Möchten wir alle tief in uns nicht lieber die Musik eines Künstlers hören, der hinter seiner Musik steht?

Identitätsverlust und Beliebigkeit

Trotz aller Einwände muss die Frage erlaubt sein: Wenn die Kunst und Musik einer ganzen Epoche völlig widerstandslos verhallt, und im neuen Zeitgeist aufgeht: Hat es dieser Epoche dann vielleicht schlicht an kultureller Qualität, Eigenständigkeit und Identität gefehlt? Hatten die Künstler selbst nichts, was an ihrem vormaligen Stil bewahrens- und erhaltenswert gewesen wäre? Gab es nichts, wofür sie kämpfen wollten? War die Mainstream Popkultur der 90er und 2000er vielleicht einfach nicht so reich wie die der vorherigen Jahrzehnte?

Oder befinden wir uns in einer Epoche, in der mit dem technischen und gesellschaftlichen Wandel auch die Kultur in immer schnellerem Wandel begriffen ist, und nichts mehr beständig bleibt?

Der Vollständigkeit halber muss zum Abschluss des Blogposts erwähnt werden, dass der Autor persönlich der Mainstream-Musik-Popkultur nur mäßig nahe steht. Es ließ sich darüber hinaus nicht vermeiden, dass ein gewisser kulturpessimistischer Einschlag in den Tonfall dieses Beitrags geraten ist.
Ich freue mich auf viele kontroverse Kommentar-Antworten 😉

2 thoughts on “Die 90er und frühen 2000er: Kulturjahrzehnte ohne Einfluss?

  1. dave

    verstehe die kernaussage nicht ganz. produktionsästhetiken ändern sich doch immer mit der technisierung. so wie sich die medien generell ändern. von der zeitung zum radio zum fernsehen zum internet etc… so eben auch von „organischer“ musik zur computerisierung etc. was aber letztlich bleibt, ist das anwachsen der möglichkeiten, verschiedene musik zu produzieren. an computern kann man ein orchester simulieren, wohingegegen mal schnell ein ganzes organisches orchester zu organisieren, für die meisten kreativen schier unmöglich wäre.

    dadurch dass es mechanisch einfacher und preisgünstiger möglich wird, musik zu produzieren, werden natürlich viel mehr leute musiker. das ist wie ich finde weder gut noch schlecht. begrüßenswert daran find ich den egalitaristischen moment, dass mehr menschen eigene musik öffentlichkeitswirksam publizieren können. dass das natürlich eine weitreichende trash-kultur mit sich bringt, war sicherlich abzusehen. aber die rezeption bleibt dennch standpunktabhängig und lässt sich nicht verallgemeinern. menschen, die eher auf komplexität und virtuosität stehen, werden genau so fündig wie menschen, die eher plastik-popsongs hören wollen.

    hinzu kommt noch, dass ästhetik/kunstwert sich mit der zeit auch wandeln. oft ist mir hierbei aufgefallen, dass ich mich mit bestimmten neuen entwicklungen nur eingehend beschäftigen muss und dann oft den kunstwert erkennen kann (open minded sein).

    das mit der „fehlenden persönlichkeit“ verstehe ich irgendwo aber auch das klingt für mich einleuchtend. das, was in der öffentlichen meinung als pop (also die bekannteste musik) wahrgenommen wird, ist die musik, auf die sich die meisten einigen können. da durch die internet-/digitalisierung bedingte informationsüberflutung entstehende auflösung von festen gruppenidentitäten eine neue art „beliebigkeit“ (nicht wertend) entsteht, kann die musik, die im mainstream stattfindet, ja im umkehrschluss logischerweise nur diejenige sein, die genau das gegenteil, also die bündelung der künstleridentität auf den kleinsten gemeinsamen nenner praktiziert.

    was aber insgesamt nicht heißt, dass die kantigen typen im musikbereich verschwinden, sondern nur, dass der mainstream-fokus nicht auf ihnen liegt. also muss man einfach mehr zeit in die suche nach neuer musik investieren, welche die persönliche schnittstelle zwischen pop (verallgemeinerung) und eigenständigkeit trifft. und da gibt es massig angebot.

    auch wenn das hier schon ein bisschen zurückliegt, freu ich mich auf antwort.

    lg dave

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    1. Avatar-FotoThomasMorus1478 Post author

      Hallo Dave,

      ich musste, um dir zu antworten, tatsächlich meinen Artikel noch mal lesen, weil nun doch schon eine Weile her ist. Und mit deinen ganzen Punkte über Digitalisierung und technische Entwicklung rennst du bei mir natürlich offene Türen ein. Nur ging es in dem einen Artikel auf diesem Blog mal ausnahmsweise nur bedingt um die Auswirkung digitalen Wandels auf unser leben.
      Der zentrale Punkt war folgender: Produktionsästhetiken haben sich zwar zu allen Zeiten verändert, jedoch fand diese Generation bisher üblicherweise innerhalb einer Künstlergeneration stand. Deswegen die Beispiele mit den ganzen 80er Künstlern, die weitgehend noch die gleiche Musik machen, wie zuvor. (Es lassen sich mit Sicherheit auch einzelne Gegenbeispiele finden. Aber die generelle Tendenz bleibt) Wenn neue, jüngere Künstler aus einer neuen Generation, mit neuen Erfahrungen, neuen technischen Möglichkeiten, und neuen kulturellen Einflüssen kreativ tätig wurden, dann kam dabei ein neuer Stil, eine neue Ästethik, sprich eine neue Art von Kunst heraus. Selbst wenn ein Künstler sich im Verlauf der Zeit weiter entwickelt hat, blieb etwas von ihm, eine Persönlichkeit, ein Stil, eine Urprägung, jedenfalls etwas, was ihm völlig eigen ist.
      Diese „Konstante“ vermisse ich, wenn ich mir heute Mainstream-Pop-Musiker anschaue, die schon in den 90er Jahren aktiv waren. Da ist kaum eine persönliche Prägung mehr zu sehen. Die eigene schöpferische Leistung geht völlig in der allgemeinen Mode unter. Wenn man ein Lied nach einem anderen hört, könnte man keinen wirklichen Unterschied mehr wahrnehmen. Und das sind eben genau die gleichen Personen, die vor 25 Jahren noch völlig andere Musik gemacht haben, und denen es offenbar überhaupt nicht schwer gefallen ist, ihren früheren Stil völlig abzulegen.
      Dieser Verlust von Identität, Persönlichkeit und eigener persönlicher Prägung verwundert mich. Ich bin wie gesagt ohnehin kein großer Fan von Mainstream-Pop-Kultur. Aber dieses Phänomen gab es für mich in früheren Generationen nicht…
      Meinen unterschwelligen Bias gegen allzu elektronische Musik hast du natürlich schön heraus gearbeitet. Ich denke aber, dass der Kernpunkt meines Texts davon nicht betroffen ist. Ich könnte die gleiche Analyse anbringen, wenn „System of a Down“ auf einmal Reggea-Musik machen würden oder Dr. Dre beschließen würde, eine Polka-Band zu gründen.

      Ich gebe dir natürlich Recht, dass die Digitalisierung und der technische Fortschritt, ein Erlösung insbesondere für die diversen weniger bekannten Musik-Szenen waren. Insbesondere wenn man solche Plattformen wie CCMixter anschaut, ist man ja immer wieder geflasht, was für qualitativ hochwertige Musik dort kostenlos angeboten wird.
      Das die kantigen Typen aus dem Musikbusiness verschwinden, habe leider nicht ich mir ausgedacht, sondern das lese ich seit Jahren (mittlerweile Jahrzehnten) in den Feuilleton-Spalten von Musik-Redakteuren. Exzentrische Musiker-Typen wird es logischer weise immer geben, weil das zu einem bestimmten Persönlichkeitstyp, der Musik macht, einfach dazu gehört. Auf Produzentenebene, wo in den 60ern, 70ern und 80ern auch noch Komponisten und Egozentriker gesessen haben, sind heute aber nur noch Marketing-Spezialisten und Musik-Psychologen zu finden.
      Alles eine traurige Entwicklung, die langfristig dazu führen wird, dass die so genannte „Mainstream-Popmusik“ verschwinden und sich die Musik-Interessen in viele Untergenres zergliedert wird. Auch das ist natürlich nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung…
      Danke jedenfalls für den ausführlichen Kommentar. Die Antwort hat Spaß gemacht 😉

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